Anfang des 20. Jahrhunderts schuf der ukrainische Komponist Leontowytsch den “Schtschedryk” – weltberühmt wurde das Lied als “Carol of the Bells”. Es handelt von Kampf und Krieg – und erscheint damit in der Ukraine aktueller denn je.
Ala Skripkar kennt dieses Weihnachtslied in- und auswendig. Es bedeutet der 67-Jährigen viel, es ist mit den beiden wichtigsten Städten in ihrem Leben verbunden. Eine davon: Winnyzja in der Zentralukraine. Im größten Park der Stadt gibt es ein Denkmal des Komponisten, der das Lied Anfang des 20. Jahrhunderts verfasst hat: Mykola Leontowytsch.
Die Dame mit dem himmelblauen Barett blickt auf die Bronzefigur im Frack. Es habe einmal woanders gestanden, im heute umkämpften Pokrowsk im Donezbecken. Von dort ist sie vor über drei Jahren geflohen. “Das war im zentralen Park, direkt daneben fanden Freiluft-Konzerte statt. Dort gab es Fahrgeschäfte für Kinder und Seen. Ein schöner Ort zum Entspannen”, erinnert sich Ala. Am Wochenende sei sie auch oft dort gewesen. “Blumen schnuppern. So viele Blumen sind in unserer Stadt gepflanzt worden. Jetzt gibt es dort nur noch Ruinen.”
Deshalb wurde das Denkmal von dort fortgebracht. Ob Ala jemals nach Pokrowsk zurückkehren wird? Sie glaubt nicht dran.
“Wir haben uns umarmt und geweint, geweint, geweint”
Pokrowsk und Winnyzja sind etwa 650 Kilometer voneinander entfernt. Aber Leontowytsch lebte in beiden Städten – und in beiden arbeitete er am “Schtschedryk”, wie das Weihnachtslied im ukrainischen Original heißt.
Ala ist Lehrerin an der Leontowytsch-Musikschule in Pokrowsk, die in der Stadt selbst jedoch längst geschlossen wurde. Ein Rest-Unterricht findet vor allem online statt. “Unsere Ensembles sind leider auseinandergefallen. Wir sind alle in verschiedene Teile der Ukraine geflohen. Von den Schülerinnen und Schülern ist der Schule noch ein Drittel geblieben”, sagt sie. Die 67-Jährige hat mehrere Bögen Papier mitgebracht. Dort ist verzeichnet, in ihrer exakten Handschrift, wie viele Preise und Auszeichnungen die Schülerinnen und Schüler ihrer Musikschule bekommen haben, damals in Pokrowsk. Sie wird wehmütig:
Jetzt bin ich seit vier Jahren hier – und habe vor Kurzem zum ersten Mal jemanden aus Pokrowsk hier getroffen, eine alte Kollegin. Zufällig im Supermarkt. Du liebe Zeit, wir haben uns umarmt und geweint, geweint, geweint. ‘Wie gut haben wir früher gelebt, wie fröhlich’, hat sie gesagt. Uns bleibt nur, an die Armee zu spenden und hoffen, dass in der Ukraine bald wieder etwas Schönes beginnt.
“Leontowytsch trug die Volkslieder in sich”
Die Geschichte des berühmten Lieds hatte schon vor 100 Jahren mit Kampf und Krieg zu tun. Ein ukrainischer Chor reiste kurz nach dem Ersten Weltkrieg um die Welt, um für eine unabhängige Ukraine zu werben. Im Repertoir: der “Schtschedryk”, der international rasch als “Carol oft the Bells” bekannt wurde. Die älteste noch erhaltene Aufnahme stammt deshalb aus den USA, von 1922. Der Erfolg des ukrainischen Chors missfiel der Sowjetmacht, die den Russischen Bürgerkrieg für sich entschied. Wohl deshalb wurde Leontowytsch ermordet, von einem Agenten des Sowjet-Geheimdienstes Tscheka.
Die älteste Aufnahme des “Schtschedryk” kann man heute im Leontowytsch-Museum in Tultschyn bei Winnyzja hören. Dort ist Switlana Lukaschenko Direktorin. Über den Komponisten sagt sie: “Das lag in seinem Wesen. Der Vater hat geschimpft: ‘Ich habe dich Musik gelehrt, warum hab ich dich nur gelehrt?’ Um im herrschenden System ruhig zu leben, hätte sich Leontowytsch unterordnen müssen. Aber er konnte nicht. Er trug diese Volkslieder in sich, er konnte nicht anders.”
Ukrainische Volkslieder im russischen Imperium – ein Skandal
Das galt schon für die Zeit, als der “Schtschedryk” entstand, vor dem Ersten Weltkrieg, im russischen Imperium. Die ukrainische Kultur war dort verpönt. Leontowytsch, Direktor eines Kirchenchors, ließ Volkslieder singen – ein Skandal.
Das Leontowytsch-Museum befindet sich in seinem ehemaligen Wohnhaus. Der Chorleiter und Komponist stammte aus der Familie eines orthodoxen Priesters und lebte bescheiden. Er habe stark dazu beigetragen, ein ukrainisches Nationalbewusstsein zu schaffen, sagt Museumsdirektorin Lukaschenko: “Er hat allen gesagt: ‘Das bin nicht ich, der die Lieder schreibt. Das sind ukrainische Volkslieder, das seid ihr.’ Er ist umgebracht worden. Aber er hat alles erreicht, was er erreichen konnte.”
Zu Musiklehrerin Ala im Park haben sich inzwischen zwei kleine Jungen gesellt. Den Mann, den das Denkmal darstellt, kennen sich nicht, aber natürlich den “Schtschedryk”. Sie haben ihn in der Schule gelernt. Der neunjährige Hlib ist auch ein Flüchtling, ebenfalls aus dem Donezbecken.
Ala bricht auf – in Richtung Stadttheater, für ein Weihnachtskonzert. Obwohl Weihnachtsstimmung seit der russischen Invasion bei ihr gar nicht mehr aufkomme. Nach dem Konzert wird sie sich wenigstens ein bisschen wärmer äußern. Ob es ihr gefallen habe? Nicht mit Worten zu fassen, wird sie sagen. Denn ganz am Schluss des Konzerts singt der Chor den “Schschtedryk” von Mykola Leontowytsch. Schon bei den ersten Takten gibt es Applaus.

