Reportage
Ob sie am kommenden Tag Strom haben werden, erfahren die Einwohner von Tschernihiw aus Stromtabellen. Russlands Angriffe zwingen die ukrainische Stadt, immer wieder den Strom für Reparaturen abzustellen. Wie lebt es sich damit?
Anastasija Woronzowa packt ihren Laptop wieder zusammen. Eigentlich wollte sie in dem kleinen Café in Tschernihiw arbeiten. Sie coacht Menschen im Internet und hilft ihnen dabei, selbstbewusster vor ihren Kunden aufzutreten.
In dem Café gibt es Strom – auch deshalb war Woronzowa hierhin gekommen. Aber es sind zu viele Leute im Raum, und Woronzowa befürchtet, diese durch ihr Coaching zu stören. Nun überlegt sie, ans andere Ende der Stadt in ein ruhigeres Café zu fahren – oder nach Hause gehen, denn dort gibt es gerade wieder Strom – “obwohl es laut Stromplan eigentlich keinen geben sollte. Dann müsste ich hoffen, dass das so bleibt.”
Für Woronzowa sind solche Gedanken Alltag. Tschernihiw im Norden der Ukraine ist weniger als 80 Kilometer von Russland entfernt. Deshalb wird es, wie viele ukrainische Städte in Grenz- und Frontnähe, von dort besonders oft beschossen.
Jetzt vor dem Winter greift Russland vor allem die Stromversorgung an, Wärmekraftwerke, Umspannwerke. Deshalb fällt immer wieder der Strom aus. Und weil die ukrainischen Energieversorger ständig dabei sind, zu reparieren, gibt es diese Abschaltpläne für jedes Haus.
In solchen Zelten können die Einwohner von Tschernihiw ihre Handys aufladen, wenn mal wieder der Strom ausgefallen oder abgestellt ist.
Auch die Wasserversorgung ist betroffen
Vor den meisten Cafes und Läden läuft ein Stromgenerator. Eine Mitarbeiterin gießt Diesel nach, ohne ihn abzuschalten und abkühlen zu lassen.
Zu Hause beschreibt Woronzowa, wie der Stromausfall auch die intimsten Bereiche des Lebens beeinflusst. Denn noch öfter als der Strom fällt das Wasser aus, weil die städtischen Pumpen nicht in Betrieb sind.
Deshalb, berichtet die 32-Jährige, könne man nicht bedenkenlos das Klo benutzen – das Wasser in der Spülung sei schnell aufgebraucht, dann müsse man mit der Wasserflasche nachgießen. Am besten gehe man woanders hin. “Denn wenn es lange kein fließendes Wasser gibt und trotzdem alle aufs Klo gehen, verstopfen die Rohre im Haus. Und dann hat das ganze Haus ein Problem.”
Viele Bürger und Geschäfte helfen sich mit benzingetriebenen Generatoren, um die Stromversorgung aufrecht zu erhalten.
Dem Mangel mit Improvisation begegnen
Deshalb hat Woronzowa mit ihrer Schwester schon Liter und Liter in die Wohnung im neunten Stock hochgetragen. Der Aufzug funktioniert bei ihr schon lange nicht mehr.
Schwester Weronika Rosumna kommt zu Besuch, sie wohnt in der Nähe. Bei ihr zu Hause gibt es im Moment keinen Strom. Die 29-jährige Bloggerin muss ihr Handy aufladen.
Ihre Filme auf Instagram handeln von den schönen Seiten des Lebens. Ein gemütliches Frühstück zu Hause, ein Besuch bei der Kosmetikerin. Die Menschen in Tschernihiw versuchten, trotz allem zu leben.
Doch das verlangt im Zeiten von Strommangel Improvisationskunst. Woronzowa berichtet vom Plan der Schwestern, zum Ausspannen nach Kiew zu fahren. “Aber als wir aufwachen, gibt es in unserem Viertel nichts, keinen Strom, kein Wasser. Ich habe zu Weronika gesagt: ‘Das schaffen wir.’ Sie ist Wasser holen gefahren, ich habe es im Topf aufgewärmt, auf dem Gasherd. So konnten wir unsere Toilette erledigen. Anschließend sind wir zu Bekannten gefahren, wo es Strom gab und haben uns dort die Haare gefönt. Dann sind wir losgefahren.”
Die Wirtschaft leidet
Für manche in Tschernihiw allerdings sind die Stromausfälle existenzbedrohend. So für Ihor Kukobko, Koch und Mitinhaber von drei Restaurants und Bäckereien in Tschernihiw. Ohne Strom kann er die Lebensmittel wegwerfen, weil er seine Restaurants nicht öffnen kann.
Das tut er zwar nicht. Der 28-Jährige verteilt sie in der Stadt an Bedürftige. Aber der russische Angriffskrieg zerstört allmählich alles, was er sich aufgebaut hat. Kukobko kennt schon Menschen, die deshalb wegziehen, vor allem andere Unternehmer.
Die Wirtschaft fließe aus der Region ab, berichtet er, die Wirtschaftskraft sinke. “Es wird hier immer weniger Geld geben. Heute kaufen 60 Leute täglich Brot bei mir, dann nur noch 40 – und mein Geschäft rentiert sich nicht mehr. Es macht mich traurig, dass Leute wegziehen, die hier etwas geschaffen haben.”
Er selbst wolle nie hier wegziehen. Wobei – das Wort “nie” habe er sich eigentlich verboten, seit Russland die Ukraine überfallen hat.
Am Abend besprechen Woronzowa und ihre Schwester, wie sie den morgigen Tag organisieren – anhand der Strompläne für ihre beiden Wohnungen. Obwohl sie natürlich wissen, dass die keine Garantie sind, sondern höchstens ein Anhaltspunkt.

