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Kanzler Merz hatte zu seinem Amtsantritt große Ambitionen. Er wollte eine Führungsrolle in Europa einnehmen. An einigen Stellen gelingt ihm das, doch der vergangene Gipfel in Brüssel sät Zweifel.
Ein altgedienter französischer Korrespondent, der das Brüsseler Geschehen schon seit Jahrzehnten verfolgt, steht vergnügt in der Kantine des Ratsgebäudes. “Dein Kanzler erhält heute eine Lehrstunde. Ihm wird vorgeführt, wie Europa funktioniert”, ruft der erfahrene Mann dem noch relativ neuen deutschen Kollegen zu.
Friedrich Merz wird im Inland häufig als “Außenkanzler” umschrieben. Auf der großen internationalen Bühne fühlt er sich wohl. Eines seiner großen Ziele war es, Deutschland wieder auf die internationale Bühne zurückzuholen und den Führungsanspruch in Europa zu untermauern.
Wie kein Zweiter machte sich der Bundeskanzler öffentlich dafür stark, die in Europa eingefrorenen russischen Staatsvermögen für ein zinsloses Darlehen an die Ukraine zu nutzen. Eine 180-Grad-Wende der deutschen Position, die er im Sommer in einem Gastbeitrag in der Financial Times verkündete. Der Tag, den Belgiens Premierminister Bart De Wever als den des “deutschen Verrats” bezeichnet haben soll, wie die Brüsseler Tageszeitung Le Soir berichtete. Denn in Brüssel, beim Zentralverwahrer Euroclear, liegt der Großteil des eingefrorenen Vermögens.
Das Scheitern der “Methode Merz”
Monatelang diskutierten Staats- und Regierungschefs sowie Finanz- und Außenminister, ob und wie die sogenannten “immobilized assets” der russischen Zentralbank in Höhe von rund 210 Milliarden Euro der Ukraine zur Verfügung gestellt werden könnten.
Berlins wichtigster Verbündeter, die Europäische Kommission, erarbeitete einen Vorschlag. 90 Milliarden Euro sollten über zwei Jahre an die Ukraine verliehen werden. Die Ukraine müsste das Geld nur dann an Russland zurückzahlen, wenn der Aggressor für Kriegsschäden aufkommt. Somit handele es sich nicht um Beschlagnahmung, betonten die Befürworter.
Das Bundeskanzleramt verteidigte den Vorschlag als quasi alternativlos. Doch während Bundesregierung und Kommission bis zum Tag des Gipfels damit rechneten, dass Belgien am Ende einknicken würde, stellte De Wever Bedingungen für seine Zustimmung: Finanzielle Garantien, die sowohl in der Höhe als auch zeitlich unbegrenzt sein sollten. Forderungen, die nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Ungarn, Slowakei und Tschechien, sondern auch unerlässliche große Staaten wie Italien und Frankreich niemals erteilen würden.
Es war Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der im Hintergrund an einem Plan B arbeitete, wie Politico kurz vor Weihnachten berichtete. Dieser Plan baute auf einer gemeinsamen Verschuldung der Mitgliedsstaaten auf. Eine Lösung, gegen die Deutschland einwendete, diese sei nur einstimmig erreichbar und damit unrealistisch. Doch Macron sprach mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán und erwirkte dessen Zusage, sich nicht in den Weg zu stellen.
Die deutsche Delegation hingegen zeigte sich auch am Gipfeltag noch zuversichtlich, dass sich ihre Variante durchsetzt. De Wever wirke viel offener, hieß es. Erst beim gemeinsamen Abendessen wurde offensichtlich: Nicht der von Merz bevorzugte und vorangetriebene Plan A wird sich durchsetzen, sondern Plan B.
Macrons Werk und Melonis Beitrag
Eine Entwicklung, die vorhersehbar war und ein Zeugnis dessen, dass die “Methode Merz”, sofern man von dieser sprechen möchte, an Grenzen stößt. Europa ist eine riesige Interessensausgleichsmaschine, 27 Mitgliedsstaaten müssen Kompromisse schließen.
Schon sechs Tage vor dem Gipfel sagte ein Diplomat eines großen Mitgliedslandes auf dem Weg durch das Ratsgebäude: “Es ist Merz, der mit seinem Financial-Times-Artikel für ein riesiges Durcheinander gesorgt hat. Er hat Eile in ein Thema gebracht, das sehr kompliziert und noch lange nicht reif ist.”
Und am Tag vor dem Gipfel sagte ein Diplomat eines anderen großen Mitgliedslandes vor Journalisten: “Wenn wir 27 zusammensitzen, denken die Deutschen, die Belgier seien das Problem. Während die meisten anderen im Raum denken, das Problem sind die Deutschen.” Denn es ist Deutschland, das sich seit Jahren gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden wehrt.
Als Friedrich Merz in der Nacht um drei Uhr die Ergebnisse des Gipfels präsentierte, stellte er sich quasi als Erfinder der Lösung dar. Berlin war darum bemüht, zu betonen, dass eine gemeinsame Kreditaufnahme wie nun für die Finanzhilfe der Ukraine vereinbart, schon zigfach praktiziert werde. Macron dagegen sprach von “Eurobonds” und einer Premiere. Nicht nur dieser Punkt verlief für den Bundeskanzler offensichtlich nicht nach Plan.
Und der Mercosur-Aufschub kam doch
Das Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten sollte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch kurz vor Weihnachten in Brasilien unterzeichnen. Würde diese Frist verstreichen, so sagten Vertreter der Bundesregierung, wäre das Abkommen nach 26 Jahren Verhandlung endgültig tot.
Frankreichs Präsident Macron wiederum betonte die Probleme der Landwirte, forderte weitere Sicherheitsmaßnahmen und zumindest die Beibehaltung des Budgets für die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen.
Deutschland machte klar, dass das Abkommen notfalls auch ohne Frankreich angenommen würde. Dafür ist nur eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten nötig (55 Prozent der Mitgliedsstaaten, 65 Prozent der EU-Bevölkerung).
Allerdings war Frankreich nicht das einzige Land, das Bedenken äußerte. Italien war das Zünglein an der Waage. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni griff zum Hörer und überredete den brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva dazu, mit seinen Partnern über eine Aufschiebung um einige Wochen zu reden. Siehe da, der Aufschub wurde gewährt.
Ergebnisse präsentiert, die noch keine sind
“Merz ist ganz anders als Merkel und Scholz”, sagt der ehemalige italienische Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten Sandro Gozi. “Merkel war sehr taktisch, bereitete von langer Hand vor. Scholz’ Agieren war unlesbar und oft unverständlich. Merz dagegen präsentiert Ergebnisse, obwohl diese noch lange nicht verhandelt sind.”
Die Politikwissenschaftlerin Jeanette Süß von der Pariser Denkfabrik Institut Français des Relations Internationales (IFRI) analysierte für eine Studie Merz’ Auftreten auf europäischer Ebene. Im Vergleich zu seinen Vorgängern zeichne sich der Stil des Bundeskanzlers dadurch aus, dass er seinen Willen, führen zu wollen, stark betone. Ähnlich wie der französische Präsident Macron werfe Merz gerne Ideen in den Raum, ohne diese davor wirklich abgesprochen zu haben – auch nicht mit dem Koalitionspartner SPD.
Der Bundeskanzler habe schnell eine Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses erreicht. Was der Kanzler vielleicht noch stärker berücksichtigen müsse, so Süß, sei es, die kleineren Mitgliedsstaaten und auch den eigenen Koalitionspartner nicht allzu sehr in den Schatten zu stellen. Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich spätestens, wenn die EU im kommenden Jahr über ihr Budget für die Jahre 2028 bis 2034 verhandelt.


