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Sie sind fast noch Kinder und werden für Verbrechen rekrutiert. STRG_F-Recherchen zeigen: Es geht um Drogengeschäfte, Racheakte, Gewaltverbrechen. Kriminologen sehen darin mehr als ein Randphänomen, das die Polizei allein nicht lösen kann.
In mehreren Bundesländern sind inzwischen weitere Fälle bekannt geworden, wie zuletzt bei einer Brandanschlag-Serie im Sommer 2025 im Rhein-Main-Gebiet: Ein 15-jähriger Niederländer soll im Auftrag einen Brandanschlag auf ein Café in Frankfurt ausgeübt haben. Jetzt wird gegen den Teenager ermittelt – unter anderem wegen fünffach versuchten Mordes.
“Es besteht der Verdacht, dass es sich hier um eine Auftragstat handelte, für die der 15-jährige Jugendliche in den Niederlanden gezielt rekrutiert und bei der Tatausführung konkret angeleitet worden ist”, bestätigt Oberstaatsanwalt Dominik Mies.
Im sogenannten Kölner Drogenkrieg wurden 2024 mehrere Jugendliche und Heranwachsende für die Ausführung von Explosionen und Foltertaten beauftragt und mittlerweile verurteilt. “Wie tief bin ich da reingeraten?”, fragt sich einer der jungen Mittäter, der geholfen hat, ein Paar zu foltern. Er hätte sich beweisen wollen und mitreißen lassen. Seine Strafe ist laut Urteil fünf Jahre Haft.
Der Chef der Kölner Kriminalpolizei Michael Esser sagt dazu: “Die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen nimmt zu, und das wird ein Problem sein, was wir so schnell nicht wegkriegen.” Oft würden sie als Belohnung nur ein paar 100 Euro oder Geschenke wie eine Playstation bekommen.
Das Geschäftsmodell hinter den Straftaten
Das sei kein Randphänomen mehr, sondern nehme in allen Teilen Europas zu, sagt der ehemalige Interpol-Chef Jürgen Stock. Aus Sicht der Auftraggeber seien Jugendliche geeignete “Tatwerkzeuge”. So werde eine Distanz geschaffen zwischen der “Tatausführung und dem der planerisch dahinter steht und sich die Finger nicht schmutzig macht”, so Stock.
Zudem seien manche Jugendliche manipulierbar. “Ich habe nichts zu verlieren. Weil ich nichts zu verlieren habe, gehe ich aufs Ganze. Es gibt halt immer mehr, immer mehr Leute. Wenn die in den Knast gehen, ist das denen egal. Wenn die heute sterben, ist es denen egal”, berichtet ein 18-jähriger mutmaßlicher Auftragstäter.
Die Europäische Polizeibehörde Europol ordnet das Phänomen unter dem Begriff “Crime-as-a-Service” ein: Gewalt könne bestellt werden – so wie eine Dienstleistung. In einem vierstufigen Modell beschreibt Europol die Struktur dahinter:
- Auftraggeber: Beauftragt das Verbrechen und finanziert es.
- Organisator: Zuständig für Waffen und Logistik der Straftat sowie Vermittler zwischen Auftraggeber und Rekrutierer.
- Rekrutierer: Sucht – häufig minderjährige – Täter für die Ausführung.
- Täter: Begeht das Verbrechen.
STRG_F hat in den Niederlanden einen solchen mutmaßlichen Organisator getroffen. Er selbst bezeichnet sich als “Mordmakler”: “Ich bin im Grunde ein Mittelsmann. Auf Niederländisch sagt man ‘makelaar’. Wenn jemand etwas braucht, jemanden, der etwas erledigt, dann komme ich ins Spiel.”
Internationale kriminelle Organisation
Er ist ein mutmaßliches Mitglied einer internationalen kriminellen Organisation. Behörden sind sich sicher, dass die Gruppierung in Waffenhandel und die Planung von Auftragsmorden involviert ist. Im Interview berichtet er von Vergeltungsaktionen, Sprengstoffanschlägen und Auftragsmorden.
Seine Preisliste reiche nach eigenen Angaben von 3.000 bis 7.000 Euro für einen Bombenanschlag und 15.000 bis 25.000 Euro für einen Auftragsmord. Auf die Frage, wie alt die Personen seien, die er rekrutiere, antwortet er: “Du kannst schon Zwölfjährige anpeilen. Die können alles machen, wirklich alles.”
Belohnungen für die Taten seien gering, sagt er. 500 Euro bekäme ein Jugendlicher für eine Sprengung. “Manche machen es sogar umsonst. Manchmal betteln sie regelrecht um solche Jobs. Das ist verrückt. Man kann’s kaum glauben”, erzählt er.
Damit würden sie sich einen Status in der kriminellen Welt erhoffen, um zum Beispiel Folgeaufträge zu erhalten. Dabei sei es Kalkül, die jungen Täter zum Beispiel aus den Niederlanden zu rekrutieren: “Wenn ein Job in Hamburg erledigt werden muss, holt man die Leute oft aus Belgien oder den Niederlanden. Wenn die Polizei ermittelt, kann Deutschland mit den Niederlanden zusammenarbeiten, aber das läuft nicht so einfach. Für den Staat ist es dann viel schwerer den Täter zu finden.”
Europols Erfolge und ihre Grenzen
Dieser grenzüberschreitenden Kriminalität will die europäische Polizeibehörde Europol begegnen. Ihre Taskforce “OTF GRIMM”, an der Ermittlungsbehörden aus acht EU-Ländern beteiligt sind, wurde im April 2025 gegründet, um gegen die Strukturen hinter dem Phänomen “Crime as a Service” vorzugehen.
Oft würden Minderjährige die Taten ausführen. Nach sechs Monaten meldete die Behörde Anfang Dezember 193 Festnahmen in mehreren EU-Staaten, davon 84 Rekrutierer und 6 Auftraggeber.
Der ehemalige Chef von Interpol, Stock, erklärt im Interview mit STRG_F, Strafverfolgung allein werde nicht reichen: “Dieser Rückschluss wäre trügerisch. Zu glauben, weil ich die einzelne Festnahme durchgeführt habe, ist eine kriminelle Organisation in ihrer Struktur erschüttert. Die Realität sieht anders aus.”
Nach seiner Erfahrung könnten die Strukturen innerhalb krimineller Netzwerke einfach ersetzt werden. Stock betont, die Verfolgung der Rekrutierer zum Beispiel könne nur ein Standbein einer gesamtgesellschaftlichen Strategie sein.
Entscheidend sei, gefährdete Jugendliche frühzeitig zu erreichen, bevor sie von kriminellen Netzwerken angesprochen würden. “Das bedeutet Investition in Prävention, das bedeutet Investition in Sozialarbeit, in Jugendarbeit”, sagt er.
Einzelne Politiker der CDU und AfD forderten bereits, das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen, als Konsequenz auf mehr registrierte Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen. Doch auch das hält Stock, der an der Universität Gießen als Kriminologe lehrt, nicht für sinnvoll: “Diese Probleme können nicht nur mit dem Mittel des Strafrechts gelöst werden – insbesondere, wenn die Zielrichtung ist, solche Taten zu verhindern.”
Politik verweist auf bestehende Instrumente
Das Bundesministerium der Justiz teilt auf Anfrage von STRG_F mit, dass das Jugendstrafrecht sowie das Kinder- und Jugendhilferecht “grundsätzlich ausreichende justizielle Handlungsmöglichkeiten” böten – auch in Fällen, in denen Minderjährige gezielt rekrutiert wurden.
Gleichzeitig betont das Ministerium, es sei entscheidend, “diejenigen, die Minderjährige für ihre Zwecke missbrauchen, zu ermitteln und konsequent zur Verantwortung zu ziehen”. Konkrete neue Maßnahmen nennt das Ministerium nicht. Stattdessen verweist es auf eine im Koalitionsvertrag angekündigte Studie zu den Ursachen von Kinder- und Jugendgewalt. Ausgestaltung und Zeitplan dieser Studie befänden sich noch am Anfang, schreibt das Ministerium.
Das Bundesinnenministerium schreibt, dass Präventionsarbeit in erster Linie in der Zuständigkeit von Ländern und Kommunen liege. Der Bund werde im Rahmen seiner Zuständigkeiten unterstützend tätig. Zugleich verweist das Ministerium auf Informationskampagnen sowie auf die Beteiligung des Bundeskriminalamts an der Europol-Taskforce.
Keine konkreten Maßnahmen genannt
Das Familienministerium schreibt, die Ausgaben für Kinder- und Jugendarbeit seien “in den vergangenen Jahren statistisch eher gestiegen”. Für die Förderung lokaler Angebote seien die Kommunen zuständig. Parallel berichten Jugendverbände und kommunale Träger in mehreren Städten über Kürzungen und eingeschränkte Angebote.
Alle drei Ministerien verweisen damit auf bestehende Instrumente, Studien oder Zuständigkeiten – konkrete neue Maßnahmen nennen sie nicht.
Die STRG_F-Reportage “Heute Kids, morgen Killer – Rekrutiert fürs Verbrechen” sehen Sie in der ARD-Mediathek.
