Flucht über das Mittelmeer – das Sterben geht weiter

Flucht über das Mittelmeer – das Sterben geht weiter

Das Rettungsschiff der Hilfsorganisationen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen "Ocean Viking"


exklusiv

Stand: 30.10.2025 06:00 Uhr

Schleusern das Handwerk legen, das Sterben auf dem Mittelmeer beenden – das versprechen EU-Politiker seit Jahren. Doch weiter sterben Geflüchtete fast täglich. Und sie werden immer brutaler angegriffen, wie Monitor-Recherchen zeigen.

Von Lara Straatmann und Julia Regis, WDR

Es ist der 24. August 2025 in internationalen Gewässern im Mittelmeer. Das Seenotrettungsschiff “Ocean Viking” der privaten Organisation SOS Meditérranée hat 87 Menschen aus Seenot gerettet. Plötzlich taucht ein zweites Boot auf – ein Boot der libyschen Küstenwache. Sie umkreisen das Rettungsschiff und beginnen zu schießen. Kameras an Bord des Rettungsschiffes haben den Angriff dokumentiert.

Schüsse auf Seenotretter

20 Minuten lang sollen die Männer der libyschen Küstenwache auf das Rettungsschiff geschossen haben, so berichten es die Seenotretter. Während des Angriffs suchen sie unter Deck Schutz. Steffi Rohland aus Hamburg ist eine von ihnen: “In der Brücke sind die Kugeln auf Kopfhöhe geflogen”, berichtet sie gegenüber dem ARD-Politikmagazin Monitor.

Später hätten sie Kugeln in den Bücherregalen und in der Decke gefunden, “überall da, wo es auf jeden Fall hätte Menschen treffen können”, so Rohland. Fotos und Videos, die Monitor vorliegen, zeigen Einschusslöcher auf der Brücke, zerstörte Scheiben und Löcher in den Rettungsbooten.

Einen solchen Angriff auf Seenotretter durch die libysche Küstenwache gab es bisher noch nicht. Dabei ist die libysche Küstenwache Europas Partner auf dem Mittelmeer. Die EU hat sie seit 2017 aufgebaut, ausgerüstet, finanziert und lässt sie gewähren: Nicht nur vor der libyschen Küste, sondern bis weit in internationale Gewässer. Auch da, wo eigentlich EU-Länder zuständig wären, fängt die libysche Küstenwache Menschen ab.

Angriff ohne Konsequenzen

Nach dem Angriff auf die “Ocean Viking” riefen Menschenrechtsorganisationen die EU in einem offenen Brief zum Handeln auf. Sie forderten unter anderem, dass die EU ihre Zusammenarbeit mit Libyen beendet. Ein Sprecher der EU-Kommission erklärte dazu man, müsse sich “weiterhin engagieren, wenn man die Situation verbessern wolle.” Von einem Ende der Zusammenarbeit oder anderen Konsequenzen kein Wort. Auf Monitor-Anfrage äußert sich die EU-Kommission nicht zu dem Vorfall.

Für Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik ein fatales Signal. Schließlich sei der Angriff auf die “Ocean Viking” erst möglich geworden, “weil es von europäischer Seite jahrelang überhaupt keine Reaktion und keine Konsequenzen auf ähnliche Vorfälle gab”, so Lacher.

Tatsächlich fällt die libysche Miliz seit Jahren durch regelrechte Hetzjagden auf Flüchtlingsboote auf. Auch Schüsse auf Boote wurden bereits mehrfach dokumentiert.

Gewalttätige Milizen

Aber es geht nicht nur um die libysche Küstenwache, die Europäische Union lässt mittlerweile sogar der Miliz des Sohnes des libyschen General Haftar auf dem Mittelmeer freie Hand. Eine Miliz, die berüchtigt für Folter und Exekutionen, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch diese Miliz ist immer wieder auf dem Mittelmeer unterwegs, um Flüchtende abzufangen und sie zurück nach Ost-Libyen zu bringen – selbst in der maltesischen Rettungszone, wo in Not geratene Flüchtlingsboote eigentlich vom EU-Land Malta gerettet werden müssten.

Das zeigt ein aktueller Angriff auf ein Flüchtlingsboot am 12. Oktober 2025. Monitor liegen Aufnahmen des Angriffs vor. Darauf ist zu sehen, wie das Boot von der Miliz verfolgt wird. Mehrmals rufen Personen auf dem Boot “Alarm Phone” an, eine selbstorganisierte Notruf-Hotline. Sie berichten, dass sie von der Miliz beschossen würden. 

Die Menschen schaffen es schließlich, selbst der Miliz zu entkommen. Später wird klar: Ein Geflüchteter wurde bei dem Angriff getötet, ein anderer liegt aufgrund eines Kopfschusses im Koma, zwei weitere sind schwer verletzt. Britta Rabe von “Alarm Phone” berichtet, man habe versucht, Rettung zu besorgen, aber es habe keine Reaktion der zuständigen Behörden gegeben.

Beobachtungsflugzeug unterwegs

Aus Flugdaten geht hervor, dass ein Beobachtungsflugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex am Tag des Angriffs über dem Gebiet unterwegs war. Ebenfalls bekannt ist, dass Frontex Koordinaten von Flüchtlingsbooten nach Libyen weitergibt. Auf Anfrage, ob das auch hier der Fall war, antwortete die EU-Kommission nicht.

Fest steht, dass allein in diesem Jahr mehr als 16.200 Menschen durch die libysche Küstenwache nach Libyen zurückgebracht wurden. Internationale Organisationen wie die UN haben immer wieder dokumentiert, dass Migranten dort in Haftlager gesperrt werden, wo ihnen Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit drohen. Um freizukommen, muss oft Lösegeld gezahlt werden.

Die Zahl der im Mittelmeer Ertrunkenen oder Vermissten ist nach wie vor hoch. Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge waren es allein bis Mitte Oktober dieses Jahres 1.328 Menschen, für die jede Rettung zu spät kam – auch weil die zivile Seenotrettung von EU-Ländern immer massiver eingeschränkt wird.

Im Konflikt mit internationalem Seerecht?

Italien schreibt den zivilen Seenotrettern nun vor, nach jeder einzelnen Rettung direkt zurück in den zugewiesenen Hafen zu fahren. Oft sind das Häfen, die extrem weit entfernt liegen. Während dieser Fahrt ist es ihnen außerdem verboten, weitere Rettungsaktionen durchzuführen. Für Felix Braunsdorf von “Ärzte ohne Grenzen” stehen die italienischen Gesetze “im Konflikt mit internationalem Seerecht und auch den europäischen Gesetzen”.

“Jeder Kapitän ist verpflichtet, soweit er das kann, Menschen in Seenot zu retten, das ist ein feststehendes Prinzip”, so Braunsdorf. Die Reaktion der EU-Kommission auf die Vorwürfe: Schweigen. Auch zu den Einschränkungen der privaten Seenotrettung äußert sie sich auf Monitor-Anfrage nicht.

Mehr zum Thema sehen Sie um 21:45 Uhr bei Monitor im Ersten.

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