Warum wir am Jahresende so gerne Bilanz ziehen

Warum wir am Jahresende so gerne Bilanz ziehen

Draufsicht, auf eine Studentin die etwas schreibt.

Stand: 29.12.2025 19:13 Uhr

Ob Insta-Highlight-Reels oder Journaling: Es wird bilanziert wie nie zuvor. Was in Rauhnächten begann, ist heute ein Mix aus Selbstdarstellung und Achtsamkeit. Warum ziehen wir zu Jahresende so gerne Bilanz?

Manche dürften sich an diesem Jahresende alt gefühlt haben. Denn beim Scrollen durch den Spotify-Jahresrückblick gab es das neue Feature “musikalisches Alter”. Wer gern Classic-Rock hört oder die Beatles, war da locker über 60 Jahre alt – selbst wenn das eigene Geburtsjahr mit einer Zwei beginnt.

Für viele ist das musikalische “Wrapped” mittlerweile zum Jahresend-Ritual geworden – ähnlich wie Jahres-Highlight-Reels auf Instagram oder TikTok. Wer es analoger mag, besorgt sich für die persönliche Jahresbilanz ein besonders schönes Heft, in das man, ganz für sich, Gedanken auf das Papier fließen lässt. Modewort dafür: Journaling. Doch woher kommt das Bedürfnis, am Jahresende Bilanz zu ziehen?

Reflexion und Zukunftsschau in Rauhnächten

Jahresbilanzen auf Social Media mögen relativ neu sein, doch das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung hat Tradition. Im europäischen Raum etwa in den mystischen Rauhnächten (auch “Raunächte” oder “Rauchnächte”) zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. Die Vorstellung einer besonderen Zeit zwischen den Jahren reicht bis in vorchristliche Zeiten zurück.

“Damit sind viele Rituale verbunden”, weiß Christine Dohler. Die Autorin und Meditationslehrerin hat einige Bestseller über Rauhnächte geschrieben. Besonders beliebt sei auch heute noch das Ritual, 13 Wünsche auf Zettel zu schreiben und davon jede Nacht einen zu verbrennen. “Den Wunsch, der übrig bleibt, nachdem die zwölf Rauhnächte verstrichen sind, darf man sich dann selbst erfüllen.”

Der Hang zum Bilanzieren reiche bis in die Gegenwart, wenn auch mit anderen Prioritäten: “Früher ging es bei den Fragen viel stärker um das Überleben, um die Ernte. Wie wird das Leben?”, sagt Christine Dohler. Heute gehe es eher darum, sich selbst zu vergewissern, was wichtig sei, was man angehen oder vielleicht ändern wolle. “Das ist eine gute Zeit, um einfach mal auszumisten, im eigenen Zuhause, aber auch im Geist, dass man frisch und klar in das neue Jahr startet.”

Digitaler Jahresrückblick als Highlight-Show

Für viele Menschen gehört zum Ausmisten auch eine Jahresbilanz in den Sozialen Medien – unter Hashtags wie #yearinreview oder #recap. Userinnen und User teilen emotionale Momente, perfekt inszenierte Urlaubsbilder, persönliche Meilensteine. Dieser Fokus auf Highlights kann sozialen Druck auslösen. Für Star-Psychologin Stefanie Stahl ergibt sich allerdings ein differenziertes Bild. Man habe auch viele Posts, in denen Menschen eher ihre Ängste, Nöte und Schwächen thematisieren.

Der Grund für den Hang zur Bilanz aus Sicht von Stefanie Stahl: “Unser Gehirn liebt Struktur und Ordnung. Orientierung und Kontrolle gehören zu unseren psychischen Grundbedürfnissen.” Das Ende des Jahres sei ein willkommener Anlass zur Orientierung. Zugleich impliziere es einen neuen Anfang. “Da stellt sich gern die Frage, was habe ich in diesem Jahr erlebt, was war gut, was könnte ich besser machen?”

In schriftlicher Form sind solche Reflexionen Trend in den sozialen Medien, das #Journaling. Der Hashtag zählt auf Instagram fast zehn Millionen Einträge. Auf Reddit folgen dem “Journaling”-Unterforum mehr als zwei Millionen Menschen. Regelmäßig aufschreiben, was man erlebt, denkt, fühlt, klassisch im Notizbuch oder per App. Ziel ist es, den eigenen Alltag zu ordnen, Emotionen zu verarbeiten und die persönliche Entwicklung für sich nachvollziehbar zu machen.

Nicht immer auf Erfolgsbilanzen setzen

Stefanie Stahl hält es für sinnvoll, insbesondere die persönliche Entwicklung zu betrachten: “Vielleicht sollte man sich weniger die Frage stellen: Wo war ich wieder erfolgreich? Was ist mir gut gelungen?, als vielmehr die Frage: Was habe ich gelernt? Konnte ich dieses Jahr wachsen? Was hat mich mir selbst nähergebracht?” Nicht die Orientierung am Erfolg sei empfehlenswert. Die Fragen sollten eher auf inneres Wachstum gerichtet sein.

Ob auf Social Media, im Tagebuch oder nur in Gedanken: Es schadet nicht, die Tage zwischen den Jahren für eine Bilanz zu nutzen. Im besten Falle kommt man zu dem Schluss, den schon Frank Sinatra besungen hat – “I did it my way” – und hat auch gleich wieder etwas für sein musikalisches Alter getan.

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