Weihnachtsfeiertage und üppige Mahlzeiten gehören für viele zusammen. Oft wird mehr gegessen, als dem Körper guttäte. Warum gerade an Weihnachten zu viel gegessen wird und was es mit dem “Dessert-Effekt” auf sich hat.
Gänsebraten am ersten, Raclette am zweiten Weihnachtsfeiertag, dazwischen Plätzchen zum Nachmittagskaffee – für alle, die Weihnachten intensiv feiern, sind diese Tage wahrscheinlich die kalorienreichsten des Jahres.
Und selbst wer sich vornimmt, spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag das Dessert stehen zu lassen: Für die Willenskraft kann das eine Herausforderung sein. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive ist das nicht überraschend. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Zusammenspiel von Hunger und Appetit
Marc Tittgemeyer forscht am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung zu den Prozessen, die im Gehirn beim Essen stattfinden. “In unserem Körper entstehen Bedürfnisse, Hunger zum Beispiel. Die müssen befriedigt werden, um unser Überleben zu sichern”, so der Neurowissenschaftler.
Schaltkreise im Gehirn seien so optimiert, dass sie auf solche Bedürfnisse reagieren könnten. Sobald der Körper also beispielsweise ein Energiedefizit hat, sendet das Gehirn Signale, man wird hungrig. Sobald der Körper genügend Energie in Form von Nahrung bekommen hat, wird das dem Gehirn gemeldet – ein Sättigungsgefühl setzt ein.
Das erklärt allerdings nicht, wie wir an Weihnachten deutlich über den Energiebedarf hinaus essen können. Würde der Mensch nur dann Nahrung zu sich nehmen, wenn er ein akutes Energiedefizit hat, wäre er vermutlich schon ausgestorben.
Als Jäger und Sammler hätten wir schließlich nicht jeden Tag in beliebiger Menge essen können, erklärt Neurowissenschaftler Tittgemeyer. Deswegen mussten wir einen Mechanismus entwickeln, der dafür sorgt, dass wir über unsere Sättigung hinaus essen – um Reserven anzulegen.
Auch dafür ist das Gehirn zuständig. Ein System sorgt dafür, dass das Gefühl von Hunger beziehungsweise Sättigung überschrieben werden kann. “Dieses System wird gern als Belohnungssystem bezeichnet. Das trifft es aber eigentlich nicht”, sagt der Neurowissenschaftler. Stattdessen werde im Gehirn ein Antrieb geschaffen, der den Körper dazu bringt, mehr zu essen, als er eigentlich braucht. Vereinfacht gesagt: das Appetitsystem.
Gewohnheiten erzeugen Appetit
Dieses System ist komplex und wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Es kann zum Beispiel auf Gewohnheiten codiert werden. Dadurch haben wir das Verlangen nach Mahlzeiten, selbst wenn wir kein akutes Energiebedürfnis haben. Ähnlich funktioniert das auch in der Weihnachtszeit. “Gewohnheiten bringen uns dazu, zu essen, weil wir das so einkodiert haben. Zum Beispiel: Jetzt ist Weihnachten, jetzt esse ich erstmal ganz viele Süßigkeiten”, so Tittgemeyer.
Zucker und Fett
Bestimmte Lebensmittel sprechen das Appetitsystem außerdem besonders stark an. Der Neurowissenschaftler Christian Lüscher forscht an der Universität Genf unter anderem zu den Prozessen im Gehirn beim Überessen. An Mäusen haben er und sein Team getestet, wie die Tiere auf Zucker und Fett reagieren. “Wenn ihnen fett- oder zuckerhaltige Nahrung angeboten wurde, nahmen sie tendenziell 30 Prozent mehr Kalorien zu sich als normalerweise”, so Lüscher. “Kombiniert man jedoch beides, steigt ihr Kalorienverbrauch explosionsartig auf 250 Prozent ihres natürlichen Bedarfs.”
Eine Kombination aus fett- und zuckerhaltigen Lebensmitteln käme in der Natur fast nicht vor, führt Lüscher weiter aus. Heute ist sie aber in vielen verarbeiteten Lebensmitteln zu finden – und im Supermarkt quasi unbegrenzt verfügbar.
Dessert-Effekt: Das Leckerste zum Schluss
Lüscher nennt das in seiner Studie den “Dessert-Effekt”. Es sei kein Wunder, dass Nachspeisen häufig süß und/oder fettig sind. “Das Dessert ist speziell konzipiert, dass man es in einem Zustand, in dem man völlig voll ist, trotzdem noch essen kann”, erklärt er.
Natürlich gebe es weitere Faktoren, die das komplexe Zusammenspiel von Hunger und Appetit beeinflussen. In der Weihnachtszeit sei beispielsweise die soziale Komponente entscheidend – wir probieren womöglich jeden Gang aus Höflichkeit, obwohl wir keinen Hunger mehr haben. Oder der Duft von Lebkuchen erinnert an die Kindheit und hebelt das Hunger- beziehungsweise Sättigungsgefühl schnell aus.
Essgewohnheiten beeinflussen Hang zum Überessen
Beim gemeinsamen Essen mit Familie oder Freunden fällt auf: Nicht alle sind auf die gleiche Weise anfällig für das Überessen. Auch dafür gibt es in der Wissenschaft Erklärungsansätze. Denn unser Hunger- und Appetitsystem reagiert auf das, was gegessen wird. In einer Studie konnte Neurowissenschaftler Tittgemeyer gemeinsam mit seinem Team zeigen, wie das Gehirn auf unser Essverhalten reagiert.
90 Testpersonen aßen acht Wochen lang jeden Tag zusätzlich zu ihren gewöhnlichen Mahlzeiten einen Pudding, der viel Fett und Zucker enthielt. Nach der Versuchszeit bevorzugten die Testpersonen plötzlich süßeres und fettigeres Essen.
Ihr Gehirn hatte sich in dieser kurzen Zeit neu verdrahtet und verlangte nach mehr Zucker und Fett. “Im Gehirn können neue Verbindungen entstehen. Und die kriege ich auch nicht mehr so einfach weg”, so Tittgemayer. Was wir essen, beeinflusst also unsere Vorlieben – und umgekehrt.
Kein Disziplinproblem
Ein weiterer Aspekt: Je mehr Fettmasse man im Körper hat, beziehungsweise je übergewichtiger man wird, desto mehr seien Hunger- und Appetitsystem fehlreguliert, so Tittgemayer. “Das Gehirn kann nicht mehr richtig messen, wie viel ich eigentlich gegessen habe.” In der Folge essen wir mehr – ein Teufelskreis, der im schlimmsten Fall Adipositas zur Folge haben kann. “Wenn jemand wirklich eine Adipositas hat, dann steuert die Biologie das Essen und nicht mehr der Wille. Das ist kein Disziplinproblem.”
Eine einmalige Schlemmerei über die Weihnachtsfeiertage ist aber unproblematisch. Denn drei Tage reichen nicht aus, um Hunger- und Appetitsystem umzuprogrammieren. Wichtig ist stattdessen, sich schlechte Essgewohnheiten über das Jahr hinweg gar nicht erst anzutrainieren.
